100 Jahre Evangelische Gemeinschaft Homberg (1904–2004)
Es kann bei der Betrachtung von Geschichte – und schon gar nicht bei der eigenen Geschichte – nicht darum gehen, wehmütig nach hinten zu schauen und die guten alten Zeiten zu preisen. Vielmehr sollte sie geprägt sein von zwei Überzeugungen: erstens es gibt „nichts Neues unter der Sonne“, aber Vieles wofür man Gott danken kann; zweitens aber kann deswegen wer will auch aus der Geschichte lernen. Darum will ich aus der 100jährigen Geschichte der Gemeinschaft Homberg Begebenheiten mit der Frage betrachten, ob wir etwas für die nächsten 10, 20, 30 oder 100 Jahre daraus lernen können.
Am Anfang: persönliche Hingabe und Mut
Im Anfang einer Sache Gottes stehen wohl selten große Pläne und Ideen, viele Mittel oder Einflussmöglichkeiten, sondern einzelne Menschen, die von Herzen dem lebendigen Gott gehorsam sein wollen. Das war mit dem Anfang der Gemeinschaft in Homberg nicht anders.
In Schlesien wohnte ein knapp 20jähriger junger Mann namens Paul Scholz. Als er von Christen, die ihren Glauben ernst nahmen, gefragt wurde: „Wollen Sie sich nicht auch bekehren?“, erwiderte er spöttisch: „Mit wem soll ich mich denn bekehren, mit einem Besen?“ Scholz wusste nicht, was „bekehren“ bedeuten sollte und hatte auch sonst wenig Ahnung vom Glauben an Jesus. Er hatte aber auch kein Bedürfnis, etwas daran zu ändern.
Eines Tages fiel Paul Scholz durch einen Unglücksfall in die Oder und drohte zu ertrinken. Von diesem Moment erzählte er später so: „In einem Augenblick stand mein ganzes Leben, von meiner Jugend an vor meinen Augen. Alle einzelnen Handlungen und Sünden zogen blitzartig an meinem Geiste vorüber, und ich merkte, dass nichts ausgelöscht und vergessen war. Ich empfand in diesem Augenblick, dass ich nicht nur im Wasser, sondern ewig vor Gott verloren war“. Scholz wurde aber gerettet, zuerst aus dem Wasser und dann – nachdem er die Christen gesucht hatte, die sich schon einmal um ihn bemüht hatten – auch durch den Glauben. Von da an wollte er Gott damit dienen, ein lebendiger Zeuge für Jesus und sein Evangelium zu sein. Er wartete nicht lange, sondern versuchte bald auch andere Menschen für den Glauben gewinnen.
Irgendwann um 1900 – man weiß nicht genau warum – kam Paul Scholz als Gärtnergehilfe von Schlesien zuerst nach Treysa. Er arbeitete in der diakonischen Einrichtung Hephata und schloss sich der Gemeinschaft in Treysa an. Paul Scholz war so erfüllt davon, dass Menschen einen lebendigen Glauben finden sollten, dass er bald einen kleinen Gebetskreis mit Diakonen und Diakonenhelfern in Hephata begann. Die Gruppe bat Gott, ihnen zu zeigen, wie sie Menschen erreichen konnten, die bereit waren, auf die Frohe Botschaft von der Vergebung zu hören. Weil er auch nach einer Verwarnung und dem schließlichen Verbot der Anstaltsleitung mit dem Gebetskreis weitermachte, erhielt er die Kündigung.
Und um ihn schnell loszuwerden, sah sich sein Vorgesetzter gleich selbst nach einer neuen Stelle für Paul Scholz um. So kam er im Herbst 1902 nach Homberg, um den großen Garten eines Homberger Kaufmanns zu pflegen und weil dieser krank war, sollte er auch die in Treysa erworbenen Krankenpflegekenntnisse anwenden. Was Paul Scholz aber am meisten an Homberg interessierte, war ob er dort auch Christen finden würde, die wie er gerne in der Bibel lasen und beteten und ein neues Leben aus dem Glauben angefangen hatten. Er wurde enttäuscht. Otto Kaiser, einer der Mitbegründer der Gemeinschaft, erlebte den Zustand so: „Die kirchlichen Verhältnisse in Homberg waren zu der Zeit nicht sehr erfreulich. Der Metropolitan, das war die Amtsbezeichnung des obersten Geistlichen, der vor allem die Sorge um die Gemeinde hätte wahrnehmen sollen, war ein alter Mann, der liberalen Anschauungen huldigte und sich um den geistlichen Stand seiner Gemeindeglieder wenig kümmerte. Die Gemeinde selbst verlangte auch kaum mehr. Der berüchtigte Kirchenschlaf kennzeichnete den Zustand der Kirchengemeinde. Unter den vielen Einwohnern des Städtchens gab es einige, die wussten, dass in ihrem Leben etwas Neues werden müsste. Aber niemand gab ihnen Anleitung, wie das geschehen könnte. Gott aber wollte auch in Homberg durch sein Evangelium eine Wende schaffen, und dazu hatte er sich schon in der Stille ein Werkzeug zubereitet“.
Gott beantwortet Gebet
Wieder begann Paul Scholz mit Gebet. Er war auf den Schlossberg geklettert, kniete dort oben nieder und betete voller Gewissheit, dass Gott ihn hören würde, um eine Umkehr der Homberger zu Jesus. Bei jeder Gelegenheit sprach er in der nächsten Zeit Mitbürger an und erzählte ihnen von seinem Glauben und der Bibel. Er war ein kleiner Mann mit krummen Beinen, auf einem Auge blind, auf dem anderen stark kurzsichtig. Wollte er lesen, musste er die Brille abnehmen und umgekehrt gegen die Buchseiten halten. Schon sein Äußeres zog keinen Menschen an. Die meisten hielten ihn für einen Sonderling, manche spotteten. So auch der Frisör, zu dem er immer gegangen war. Scholz entschloss sich, einen anderen aufzusuchen und kam so zum Frisör Konrad Angersbach. Der neue Frisör bekam ebenso ohne Scheu von Jesus zu hören, im Laden wie auch bald in seinem Wohnzimmer. Und Konrad Angersbach zeigte Interesse, sagte sogar vor den anderen Kunden, dass Scholz mit seiner Predigt doch Recht habe. Nur sein Leben ändern konnte er nicht. Er war nämlich alkoholabhängig.
Trotzdem ließ er sich zur Weihnachtsfeier der Gemeinschaft in Treysa einladen und war sehr angesprochen. Er verstand anfangs nicht viel, aber ihm wurde doch klar, hier sind Menschen in Gemeinschaft mit Gott. Dann aber wollte er sich die Weihnachtszeit auch mit dem Besuch in der Gaststätte und der gewohnten Skatrunde verschönen. Nur wurde nichts daraus. Als er sich zu seinen Freunden setzen wollte, sagten die ihm, sie verzichteten auf seine Gesellschaft. „Du bist ja bei den Heiligen gewesen!“ schallte es. Ganz perplex wollte er sich an einen anderen Tisch setzen, an dem ebenfalls gespielt wurde und erlebte die gleiche Reaktion. Obwohl er sich noch gar nicht als ein so entschiedener Christ verstand, musste er sich plötzlich entscheiden. Entweder über das zu spotten, was er tags zuvor erlebt hatte oder auf das Zusammensein mit den Freunden zu verzichten. Er drehte auf dem Absatz um, verließ das Lokal und schwor sich still, er werde es nie wieder betreten. Das war ein wesentlicher Anstoß für die kommende Lebenswende.
Konrad Angersbach suchte die Nähe von Paul Scholz, entschied sich zuerst, sich vom Alkohol zu trennen und dann mit ganzem Herzen den Glauben zu seinem Lebensinhalt werden zu lassen. Bald traf sich ein kleiner Kreis von Interessierten im Wohnzimmer des Hauses Angersbach. Sie lasen miteinander in der Bibel und fragten danach, wie sie ein Leben aus dem Glauben leben konnten. Durch das Gespräch von Mensch zu Mensch waren Einzelne in Homberg und den umliegenden Dörfern darauf aufmerksam geworden, dass die Gemeinschaft um das Wort Gottes und das Gebet den Hunger der Seele stillt, den sie schon länger spürten. Das alles entwickelte sich im Laufe des Jahres 1903. Anfang des Jahres 1904 wurde der Bibelkreis eine regelmäßige Einrichtung. Er sprach sich herum: von wenigen geliebt und von nicht wenigen verspottet: „Was, du gehst zu den Heiligen bei Angersbach?“
Dynamik trotz Widerstand
Da entstand ein Kontakt zu dem jungen Prediger Alfred Roth, der in Hersfeld innerhalb einer schon früher entstandenen Gemeinschaft tätig war. Als er als Gast nach Homberg kam und bei Angersbach am 5. August 1904 seine erste Bibelstunde hielt, bekam die kleine Bewegung noch mehr Dynamik. Das Wohnzimmer war bald zu klein. Auf der Treppe saßen die Leute und wollten mehr von Jesus wissen. Immer mehr wollten von jetzt an ein Leben aus dem Glauben führen, während vorher die Christlichkeit, die die meisten hatten, nur äußerlich war und nicht selten Heuchelei. Der Funke sprang über und noch im gleichen Jahr begann auch in Wernswig eine kleine Gemeinschaft, die sich bei Familie Köhler traf. Alle Familienmitglieder hatten ein neues Leben im Glauben begonnen.
Der Raum wurde zu eng. Da kam einer auf die Idee, man könne sich doch in einem größeren Raum im Hospital zum Heiligen Geist treffen. Der Vorstand des Hospitals stimmte zu, stellte allerdings eine Bedingung: er wollte keine Abspaltung und Konkurrenz zur örtlichen evangelischen Kirchengemeinde fördern. Deswegen sollten die Veranstaltungen abwechselnd von Prediger Roth und dem örtlichen Metropolitan gestaltet werden. Die kleine Gemeinschaft stimmte zu. „Separatismus“ lautete ein Vorwurf, den man vermeiden wollte. Abgrenzung in religiösen Dingen, nur um irgendeine Sondererkenntnis zu pflegen, das hatten die Glieder der Gemeinschaft nicht im Sinn. Es war gerade die Mitte des christlichen Glaubens, der ihnen so wichtig geworden war. Sie waren doch gerade aus ihrem Schlaf aufgeweckt worden, der ihnen den christlichen Glauben zu einer äußerlichen Form hatte erstarren lassen. Jetzt war er ihnen zur Herzens-angelegenheit geworden. Nun fanden einige Zusammenkünfte unter Beteiligung des Metropolitans statt. Nachdem der aber Alfred Roth predigen hörte, teilte er mit, dass Roth kein Prediger sei und er selbst fortan jede Woche die Predigt halten werde. Alfred Roth und die anderen Verantwortlichen entschieden wieder im Haus Angersbach eine Bibel- und Gebetsstunde anzubieten. Die meisten Besucher fanden sich dort ein. Damit war die Zusammenarbeit vorerst zu Ende. Der Metropolitan führte bald keine Stunden mehr durch, aber die kleine Gemeinschaft machte weiter. Auch immer mehr Jugendliche suchten die Gemeinschaft und hatten Interesse an der Bibel. Das Haus Angersbach war nun einfach viel zu klein. Daraufhin mietete man ein ehemaliges Fotoatelier. Aber selbst dort ging es bald beengt zu.
In der nächsten Zeit gab es manche Anfeindungen. Einerseits freuten sich manche über die neue Bewegung, weil sie sahen, dass die Leute den Glauben ernst nahmen, ihr Leben sich zum Besseren änderte und auch die Jugendlichen ihre Zeit mit Sinnvollem zubrachten. Die meisten aber teilten die Abneigung, die auch von der Kirchengemeinde zum Ausdruck gebracht worden war. Die freundlicheren Meinungen gingen so: man wolle doch eigentlich das Gleiche und habe doch auch schon immer in der Bibel gelesen; was aber jetzt hier geschehe, das sei doch einfach übertrieben; man müsse doch normal bleiben. Andere versuchten die Treffen mit Lärm zu stören und einmal flog sogar ein schwerer Stein durch das Glasdach des Ateliers, verletzte aber zum Glück niemand. Die Feindschaft förderte nur die Entschiedenheit der Teilnehmer. Wer zur Gemeinschaft kam, dem musste der Glaube wirklich wichtig sein, denn es kostete ihn etwas. Der junge Schmied Hermann Licht fand in seiner fröhlichen Art noch eine gute Seite daran: „Wenn ich für den Glauben beschimpft werde, ist mir das recht, dann kann sich zeigen, ob ich trotzdem nicht zornig werden muss“. Als der Metropolitan hörte, dass die „Gemeinschaftsleute“, wie sie oft genannt wurden, in großer Zahl an der Abendmahlsfeier in der Kirche teilnehmen wollten, da machte er in seiner Predigt allen Gottesdienstbesuchern klar, dass man sie, nach einem Gleichnis Jesu, als Unkraut unter dem Weizen ansehen sollte. Die Gemeinschaftsleute ertrugen es still. Und trotz aller Feindschaft kamen immer mehr Interessierte und viele erlebten, wie ihnen der Glaube geschenkt wurde.
Selbständige Bewegung
Die Situation führte aber auch dazu, dass die Verantwortlichen, in der kaum 3 Jahre alten Gemeinschaft auf eine große Selbständigkeit aus waren. Man wollte keineswegs gegen die Kirche stehen, aber sah doch die Notwendigkeit in Unabhängigkeit zu arbeiten. Dabei gab es in der Umgebung durchaus auch einige Pfarrer, die in den Gemeinschaften eine Belebung und einen Gewinn für Kirchengemeinden sahen und die Gemeinschaften nach Kräften förderten. Auch in Homberg gab es später Jahre guter Zusammenarbeit.
Jetzt aber gehörte zur Selbständigkeit, dass 1905 Alfred Roth der erste angestellte Prediger in Homberg wurde. Außerdem begann man mit dem Bau eines eigenen Hauses am Stellbergsweg, dass bereits am 13. September 1907 bezogen wurde. Von der schönen Einweihungsfeier wurde noch lange erzählt.
In Alfred Roth hatte die Gemeinschaft einen sehr vielseitigen Prediger. Er war ein meisterlicher Erzähler und Schriftsteller, er konnte anschaulich und packend die Bibel auslegen. Er war aber auch ein weitsichtiger Mann, der zwischen Heuchelei, oberflächlicher Schwärmerei und echtem Vertrauen auf Jesus unterscheiden konnte. In dieser Zeit wuchs die Gemeinschaft beständig. Besonders in den umliegenden Orten entstanden viele Bibelkreise und kleine Gemeinschaften, die mit Homberg einen Arbeitsbezirk bildeten. Bis Prediger Roth 1912 zurück nach Hersfeld ging – und später Leiter eines ganzen Verbandes von Gemeinschaften von Kassel bis ins Nassauer Land wurde -, hatte der Bezirk fast seine heutige Ausdehnung von Melsungen bis Frielendorf mit zahlreichen kleinen Kreisen. Alle diese Kreise lebten davon, dass ein oder zwei Familien im Dorf einen lebendigen Glauben gefunden hatten und dann nicht nur ihre Häuser öffneten, sondern sich intensiv und liebevoll um Nachbarn, Freunde und Verwandte bemühten. Sie luden ein, trösteten in Not, boten praktische Hilfe an, lebten aus dem Glauben lebendige Gemeinschaft. Der Prediger war jeweils Gast und Ansprechpartner bei schwierigen Fragen. Jedoch leiteten auch zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter die Bibel- und Gebetsstunden, unter ihnen die Zeugen der ersten Stunden: Paul Scholz, Konrad Angersbach und Otto Kaiser. Das evangelische Prinzip des allgemeinen Priestertums, das sonst so wenig ausgelebt wurde, war von Anfang an wichtig. Jeder, der zur Gemeinschaft gehörte, sollte seinen Platz zur Mitarbeit finden und so Gott dienen.
Es ist heute kaum vorstellbar, was innerhalb weniger Jahre wuchs. Ein einzelner Christ, der seinen Herrn auf dem Schlossberg bat und dann einfach seinen Glauben bekannte, wurde zum Beginn einer lebendigen Bewegung in Homberg. Was die Gemeinschaft ganz von Anfang lebte, ist bis heute Kern und Wesen der Weitergabe des Glaubens an Jesus: von Mensch zu Mensch bezeugen, dass Jesus zur Vergebung für unsere Schuld und Trennung von Gott gestorben ist. Jeder muss umkehren zu einem Leben, das vom Glauben bestimmt wird und darf Gemeinschaft in der Liebe zu leben. Das zeigt sich bis heute daran, ob wir Freude und Leid miteinander teilen, uns um einzelne Menschen kümmern, ihnen nachgehen und helfen, aus der tiefen Überzeugung heraus, dass echtes Christentum nur ganz nach der Bibel und aus einem persönlichen Glauben gelebt werden kann.
In Bewegung sein und bleiben
Die Homberger Gemeinschaft ist Teil der deutschlandweiten Gemeinschaftsbewegung und in dem Wort „Bewegung“ kommt treffend zum Ausdruck, was die Gemeinschaft in 10 Jahrzehnten geprägt hat. Man war Bewegung und als solche offen für das beständige Fragen wie Gott heute wirken möchte. Man war bereit, in der Gesellschaft Vorhandenes aufzunehmen und es zum Dienst für die Verkündigung des Evangeliums einzusetzen. Lebendiges Christsein gab es auch vor Gründung der Gemeinschaft. Mehrfach in der Vergangenheit hatten etwa gläubige Lehrer an Hombergs Schulen Impulse gesetzt. Das wachsende Vereinswesen wurde nun auch von der Gemeinschaftsbewegung genutzt, um eine Struktur neben der Volkskirche aufzubauen. Nach 1848 hatte es überall in Deutschland Vereinsgründungen von religiös Erweckten gegeben. Was in der Kirche vermisst wurde, sollte ergänzend in einem Verein gepflegt werden. Dazu gehörten etwa ein Evangelistenverein, verschiedene Diakonievereine oder der Christliche Verein Junger Männer (CVJM) und der Jugendbund für Entschiedenes Christentum (EC), in denen sich viele Jugendliche organisierten. Seit 1911 gab es auch in Homberg eine Ortgruppe des CVJM und ab 1924 eine des EC, die sich in die Gemeinschaft integrierte. Um die Jahrhundertwende entstand eine starke Singbewegung in Deutschland. Sie fand auch in der Homberger Gemeinschaft einen Platz. Ein „Gemischter Chor“ wurde gegründet und war Teil der Verkündigungsarbeit. Ebenfalls in diese Zeit gehörten die Aufmärsche, heute würde man Demonstration sagen. Auch der EC zog nun mit Fahnen und Plakaten und Liedern durch die Straßen Hombergs.
Zum „Auf“ gehörte auch das „Ab“ in der Bewegung. Bereits 1908 sah Alfred Roth in Homberg nüchtern einige Probleme in der Gemeinschaftsarbeit. Dazu gehörte z.B. eine anfängliche Begeisterung bei manchen, die aber nicht zu einer wirklichen Veränderung des Lebens führte oder der „Krebsschaden“ innerer Zwistigkeiten oder der vereinzelte Einfluss falscher Lehren. So war aus England und Amerika eine Bewegung nach Deutschland gekommen, die durch einen starken Enthusiasmus geprägt wurde und den Namen „Pfingstbewegung“ trug, weil sie eine Geistestaufe erwartete, bei der ähnliche Erscheinungen auftraten wie beim ersten Pfingstfest in Jerusalem – besonders die Fähigkeit in einer Sprache zu beten, die man nie erlernt hatte, wurde in den Vordergrund gestellt. Die Homberger Gemeinschaft nahm das zuerst als lebendiges Wirken Gottes auf. Aber nur kurz, dann bemerkte sie, geprägt durch die gute Bibelauslegung von Alfred Roth, wie viel Überspanntheit und von der Bibel abweichende Lehren mit dieser Bewegung einhergingen. Es kam zu schmerzhaften Trennungen, die z.T. durch Familien hindurchgingen, weil sich der größte Teil der Gemeinschaft gegen die Pfingstbewegung stellte, ein Teil unentschieden blieb und ein Teil ganz auf diese Bewegung setzte. Einige fuhren dann zu Veranstaltungen nach Kassel, wo die Bewegung stark vertreten war. Ähnliches wiederholte sich später in den 90er Jahren und wieder kam es zu einer schmerzlichen Trennung.
Chancen wahrnehmen
Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg, dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 und dem Ende des landesherrlichen Kirchenregimentes machte sich eine große Verunsicherung unter den Menschen breit. Viele öffneten sich für das Fragen nach Gott und Glaube. Die Auswirkungen waren in Kirche und Gemeinschaft zu spüren. In den 20er Jahren veranstaltete man fast jährlich Evangelisationen, z. T. in der Stadtkirche, z. T. im Haus der Gemeinschaft, bei denen Menschen zur Bekehrung eingeladen wurden. Nicht wenige Homberger, darunter auch zahlreiche Jugendliche, begannen ein neues Leben aus dem Glauben in starker Bindung an die Bibel. Den meisten wurde die Gemeinschaft zu geistlichen Heimat.
Als die nationalsozialistische Bewegung von Adolf Hitler immer mehr erstarkte, waren auch Gemeinschaftsleute dafür offen. Wurde hier Gottes Wirken zum Wohl des deutschen Volkes sichtbar? Wie in der ganzen Gemeinschaftsbewegung waren auch in der Homberger Gemeinschaft viele hin und her gerissen. Immerhin hatte sich mit der so genannten „Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen“ eine starke Gruppe in der Kirche ganz auf die Seite des Nationalsozialismus gestellt. Nach der Machtergreifung Hitlers sollte auch die Kirche „gleichgeschaltet“ werden und sich nur noch als Teil der großen deutschen Bewegung verstehen. Der Staat verordnete auch der Gemeinschaft das „Führerprinzip“. Alles sollte von oben nach unten durchorganisiert werden. Alfred Roth, inzwischen der Leiter des Gemeinschaftsverbandes, musste jetzt „Gauführer“ heißen. Bald wurden Gesetze gegen Juden erlassen und die so genannten „Arierparagraphen“ auch in der Kirche eingeführt. Alfred Roth hatte das herannahende Unheil, das vom Dritten Reich ausging, bald vorausgesehen. Aber andere waren nicht so hellsichtig. Sie erinnerten sich daran, dass die Jüdische Gemeinde in Homberg der Gemeinschaft, als es ihr finanziell schlecht ging, das Gemeinschaftshaus hatte abkaufen wollen, um eine Synagoge und Judenschule einzurichten. Eine Zurückdrängung des jüdischen Einflusses begrüßte man zuerst. Dann aber wurde doch ein klarer Schnitt gezogen. Anfang 1934 teilte man allen Mitgliedern mit, dass sie wegen der ideologischen Verirrung nicht gleichzeitig Mitglied der Deutschen Christen und der Gemeinschaft sein konnten. Die Gemeinschaften stellten sich offen auf die Seite einer kleinen Gruppe von Pfarrern, die sich zur Gründung der „Bekennenden Kirche“ gegen die – von den Nationalsozialisten bestimmten – „Reichskirche“ entschlossen hatten. Alfred Roth schrieb schon kurz vorher in sein Tagebuch: „Wenn Politik dämonisch wird, wenn das Propagandamittel einer Politik ein ‚Schwarmgeist’ wird, sind Seelsorger mit der Bibel in der Hand auf den Plan gerufen. Ich kenne den Schwarmgeist und habe erlebt, dass er im Handumdrehen aus gutmütigen, kleinbürgerlichen Menschen Rasende macht, die zu allem fähig sind“. Der damalige Homberger Prediger Hermann Beiderwieden führte die Gemeinschaft von 1933 bis 1945 in ruhigem Fahrwasser abseits der Politik durch die Zeit des 3. Reiches. Da war es schon viel, wenn der Jugendbund sich einen Wimpel stickte, auf dem „Jesus, unser Führer“ zu lesen war.
Auch nach dem Zusammenbruch und dem verlorenen Krieg mühte sich die Gemeinschaft zuerst um das geistliche Anliegen. Viele Menschen waren wieder offen für die christliche Botschaft und es kam zu einem neuen Aufbruch in den Kirchen und in der Gemeinschaft. Auch kamen aus den verlorenen Ostgebieten manche, die dort zu Gemeinschaften gehört hatten und nun ein neues Zuhause suchten und fanden. Hatte sich die Gemeinschaft immer wieder gefragt, ob nicht eine noch größere Unabhängigkeit von der Volkskirche der bessere Weg sei, so erhoffte man sich jetzt eine Erneuerung der ganzen Kirche aus dem Geist der Umkehr zum Evangelium. Es folgten einige Jahre meist guter Zusammenarbeit mit Pfarrern in Homberg und der Umgebung. Aber bereits 1952 schrieb Edmund Lieske, der von 50-58 Prediger in Homberg war, wieder von „unliebsamen Auseinandersetzungen mit kirchlichen Vertretern“ in sein Tagebüchlein.
Die Gemeinschaft entwickelte in diesen Jahren – wie schon einmal vor dem 1. Weltkrieg – eine regelrechte Feierkultur, um dadurch Menschen mit dem Glauben bekannt zu machen. Im Homberger Saal, aber auch in vielen Orten und auf Bauernhöfen wurden Sommerfeste, Missionsfeste und Gemeinschaftsfeste gefeiert. Adam Schott spannte die Pferde vor den großen Leiterwagen, der Chor nahm Platz und fuhr zu einem Fest. Dort gab es nicht nur guten Kuchen, Musik und Gespräche, sondern auch wenigstens zwei Predigten. Es war eine frohe Zeit, besonders nach den schlimmen Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren.
Aber es passierte noch etwas, das zeigt wie die Gemeinschaft an der Bewegung der Zeitläufte teilhatte. Die „satten“ Wirtschafts“wunder“jahre ließen in vielen Menschen das Interesse an geistlicher Nahrung verloren gehen. Nicht nur ließen sich immer weniger einladen, sondern die Gemeinschaftsleute sahen, wie ihre eigenen Kinder der Gemeinschaft und zum Teil auch dem Glauben den Rücken kehrten. Mit einem Mal wirkte die Gemeinschaft für viele hausbacken und irgendwie hinter der Zeit zurückgeblieben. Das war ein schmerzlicher Einbruch, der sich im Bezirk so bemerkbar machte, dass der Nachwuchs fehlte und einzelne Kreise sogar eingestellt wurden. Die Gemeinschaft ließ aber in ihrem Anliegen, Menschen mit der Botschaft der Bibel bekannt zu machen und sie zu einem persönlichen Glaubensleben zu motivieren nicht nach. Fast jedes Jahr wurde zu Bibelwochen oder evangelistischen Wochen, die in einem Zelt der Zeltmission stattfanden, eingeladen. Es wurden Freizeiten für Jugendliche und Familien veranstaltet, die den Wunsch nach einer Urlaubsreise mit täglichem Bibellesen verbanden. Meist ehrenamtliche Mitarbeiter machten Angebote für die vielen Kinder, die in dieser Zeit geboren wurden. So kamen doch nicht wenige Menschen wenigstens mit dem Glauben in Kontakt.
Aufbruch unter Jugendlichen
Parallel zur Studentenbewegung der 68er schenkte Gott in den 70er und 80er Jahren einen geistlichen Aufbruch unter Jugendlichen. Überall in Deutschland entstanden Jugendkreise, es wurde über Gott und Glaube heiß diskutiert und nicht wenige wurden mit ganzem Herzen Christen. Eine regelrechte christliche Jugendbewegung entstand. In Homberg blühte der Jugendkreis des EC neu auf und zugleich traf sich ein CVJM-Jugendkreis in kirchlichen Räumen. In der Gemeinschaft trug das Fundament Früchte, das ehrenamtliche Mitarbeiter in den 60er Jahren durch unermüdliche Jungschararbeit an Kindern aufgebaut hatten. Wie Einzelne mit aller Kraft Jesus dienen wollten, wurde zum prägenden Vorbild und Ermutigung für andere.
Es wurde ein Jugendchor gegründet und eine Teestube eröffnet, in der 14täglich samstags junge Leute nicht nur bei Tee und Spielen ihre Zeit verbrachten, sondern von Jesus und dem Glauben hörten und ein neues Leben begannen. Neben dem Prediger stellte die Gemeinschaft nun eine Jugendmissionarin an, die mit großem Einsatz in Homberg, Melsungen und einigen Dörfern Kinder- und Jugendgruppen betreute und dabei auf die Unterstützung von ehrenamtlichen Mitarbeitern zählen konnte. Bei der Bevölkerung war die Gemeinschaft wegen der guten Kinder- und Jugendarbeit geschätzt. Aus dieser Jugendarbeit sind viele hervorgegangen, die heute ein entschiedenes Christsein leben. Die meisten sind zwar durch Studium und auf der Suche nach einem Arbeitsplatz von Homberg weggezogen, arbeiten aber heute haupt- und ehrenamtlich in vielen Gemeinden mit.
Da das alte Haus am Stellbergsweg für die neu erwachende Jugendarbeit zu klein geworden war und ein grundlegender Umbau zu aufwendig erschien, entschied sich die Gemeinschaft Ende 1975 schweren Herzens sich vom alten Haus zu trennen und ein neues auf einem freien Grundstück am Steinweg, das man von der Kirche kaufen konnte, zu bauen. Im folgenden Jahr wurde der Grundstein gelegt und am 4. Juni 1978 konnte das Haus mit einer großen Feier eingeweiht werden. Es wurde für 50-100 regelmäßige Besucher konzipiert, mit der Möglichkeit für Feiern und größere Veranstaltungen und extra Jugendräumen.
Es geht weiter …
Die letzten 25 Jahre der 100-jährigen Geschichte haben gezeigt, dass Gemeinschaft (in) Bewegung ist. Diese Zeit ist von der Frage geprägt gewesen, wie sich Gemeinschaftsarbeit weiter entwickeln kann oder ob gar die Zeit der Gemeinschaften einfach vorbei ist.
Viele Fragen wurden in diesem Zusammenhang in der deutschlandweiten Gemeinschaftsarbeit bewegt, und fast alle sind auch in Homberg angekommen. Schon in den 70er Jahren hatte es Mitarbeitertagungen mit Themen gegeben wie: „Müssen unsere christlichen Gemeinschaften attraktiver werden?“ oder „Gemeinschaftsarbeit Heute!“ Einige Beispiele für weitere bewegende Fragen: Soll die Gemeinschaft zu einer „Seelsorgebewegung“ werden? Der wachsenden Zahl an psychischen Störungen und Erkrankungen wollte man begegnen und mit einer besonderen Seelsorge abhelfen. Welche und wie viele Impulse der aus Amerika kommenden Gemeindewachstumsbewegung sollte man aufnehmen? Dort hatte man soziologisch die Faktoren untersucht, die es Menschen leichter machten in eine christliche Gemeinde zu finden. Dann brach eine neue Pfingstbewegung auf, die sich nun charismatische Bewegung nannte, und befruchtete das Leben vieler Gemeinden in Deutschland. Was konnte und sollte man von ihnen lernen, ohne die falschen Lehren und Grenzüberschreitungen, die diese Bewegung begleiten, aufzunehmen?
Während der ganzen Zeit ist zu beobachten, wie sich die Gemeinschaft mehr und mehr als Gemeinde versteht. In ganz Deutschland fragten sich Gemeinschaften, ob sie „alternative“ Kirchengemeinden werden sollten. Durch den starken Einfluß der historisch-kritischen Universitätstheologie auf die Volkskirche wuchs eine Kluft zwischen Kirche und Gemeinschaft, über die zwar immer wieder Brücken gebaut wurden. Aber der Graben blieb und wurde eher breiter. Nun wollten die Gemeinschaften der Kirche nicht den Rücken kehren, aber doch als eigenständige Gemeinde leben. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass immer mehr jüngere Mitglieder in nur einer Gemeinde zu Hause sein wollten und das Mitleben in der Kirchengemeinde und die gleichzeitige Mitarbeit in der Gemeinschaft nicht verbinden konnten.100 Jahre Evangelische Gemeinschaft Homberg (1904–2004)
Liebevolle Gemeinschaft zur Ehre Gottes
Die Gemeinschaft hat sich diesen Fragen gestellt und wollte dabei nach dem biblischen Prinzip verfahren: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ Das Fragen nach Gottes Weg heute zeichnet die Gemeinschaftsbewegung aus. Wo es dabei zu unnötigem Streit und Verletzungen gekommen ist, sollten wir das als Prüfung ansehen, ob wir dem Evangelium treu bleiben und es leben, Vergebung suchen und anderen gern vergeben. Dass die Gemeinschaft ihren eigentlichen Auftrag aus den Augen verliert, muss vermieden werden, bleibt aber eine Gefahr. Darum müssen wir uns immer wieder klar machen, dass wir als Brüder und Schwestern im Glauben von Gott in Homberg zusammengestellt wurden. Wir sind von Gott dazu bestimmt, zum Lob Gottes und seiner Gnade dazusein. Dafür sind ein Leben aus dem Glauben, das Hören auf Gottes Wort, das Gebet und die gelebte Gemeinschaft Eckpfeiler. Wir dürfen als Gemeinschaft leben, Liebe geben und nehmen. Dabei bleibt Gottes Auftrag an uns, Menschen das wunderbare Evangelium von Jesus nahe zu bringen. Wer das will, muss sich zu seinen Nachbarn, Freunden und Kollegen wenden und sich für sie interessieren. So wird die Gemeinschaft weiterhin Wege zu den Herzen suchen und sich um eine klare Sprache bemühen, um den Glauben zu bezeugen.
Thomas Jeising